In der Rubrik „So war es damals“ berichtete die Zeitschrift „Burgenländische Gemeinschaft“ vom Fortschritt, Aufbruch und zunehmenden Wohlstand des Burgenlandes. Frau Annemarie Sahloul, vor Jahren von Wörterberg nach London ausgewandert, stand dieser Entwicklung ambivalent gegenüber und schrieb anmerkend schrieb dazu einen Leserbrief:
„Lieber Herr Dujmovits!
Sie beschreiben eingehend und ausführlich die großen Änderungen im Burgenland und seinen Dörfern. Sie berichten von Fortschritt und da ist ein Aufruf zum Begegnen all dieser neuen Anforderungen. Sie erkennen ein Abbrechen der alten Grenzen und deuten auf neue Weiten, neue ökonomische und soziale Möglichkeiten. Ein ständiger Drang zum Fortschritt und Aufbruch.[…] Ich erinnere mich sehr wohl an die harte Arbeit, den kargen Ertrag und wenig Komfort am Ende von Jahre schwerer Arbeit. Und so bin ich mit meinen Landsleuten stolz, daß sie durch die Arbeit ihrer fleißigen Hände nun auch Wohlstand erreicht haben. Und so frage ich mich, mein Burgenland, warum ich mich nur halb freuen kann?
Für lange Jahre warst du das arme Kind von Österreich und doch lag in dieser Armut Dein Reichtum. Im kleinen Bereich kann der Mensch sich entfalten. Im einfachen und in dem was der Mensch selbst schaffen und überblicken kann, findet er Zufriedenheit und Erfüllung. Innerhalb kleiner Gemeinschaften lernt der Mensch die Grenzen von Freuden und Leiden zu verstehen und Schicksalhaftes zu meistern.
Wie schade, daß der Fortschritt so rasant unser ländliches Leben in die Museen transportiert hat. Obwohl anerkennend und dankbar der Mühe der Menschen, die diese Museen ermöglichen und so die Geschichte des Bauernstandes im Burgenland bereichern, empfinde ich beim Besuch immer tiefe Traurigkeit, da die Geräusche dieser Werkzeuge und Gegenstände für immer verstummt sind. Nicht so in meinen Erinnerungen. Meine Besuche von Wörtherberg sind kurz und viel zu selten und ich gestehe, daß ich meine Eindrücke ohne genauere Überlegung fasse. Doch merke ich, daß es von Jahr zu Jahr stiller wird im Dorf. Jedes Jahr finde ich neue und immer größere Häuser mit schweren Türen und Toren mit Türglocken. Blumen in Überfülle. Leere Felder, leere Straßen -leeres Dorf -wenige Menschen. Sie arbeiten auswärts. Sie tragen Sonntagskleidung an Arbeitstagen und sie sprechen Sonntagssprache. Oh weh, oh weh mein Wörtherberg, wie bist du so modern und anders geworden in meiner Abwesenheit. Ich vermisse die offenen Türen; ich vermisse in barfuß die Kinder und in Alltagskleidung, die Menschen am Wege zur Arbeit mit Sense und Sichel, die Getreidewägen, schwer beladen. Ich vermisse den Geruch von duftendem Heu und kühlem Klee, den heimlichen Geruch der Tiere. Ich suche die alten Häuser, die Stadeln und Scheunen. Ich suche die bescheidenen Blüten, das Einfache, das Gewohnte. Jedes Jahr suche ich meine Kindheit und Jugend und finde sie nimmermehr.
Vielleicht sagen sich die Leute von Wörtherberg, daß meine Worte romantisch und sentimental sind. Vielleicht erinnern sie sich mehr an die Entbehrungen, Sorgen um gute Ernten, an das Beengende des Dorflebens ohne viel Aussicht auf eine Verbesserung; warum vielleicht auch ich zum Wanderstab griff. Irgendwo zwischen dem Idyllischen und der Realität liegen meine Gefühle des Verlustes, die ich erkennen muß und die ich, lieber Herr Dujmovits, auch in Ihren Zeilen “So war es damals”, wahrnehme. Da liegt die Wehmut der Erkenntnis, daß mit dem Wohlstand und Aufstieg das Burgenland und seine Menschen auch Kostbares verloren haben. Inmitten des Arbeitsleides lag die enge Verbundenheit zur Natur, zu den Menschen im Dorf; einander kennen und vertrauen können. Eine Unabhängigkeit von komplizierter Technik; ein Gefühl, daß ich Meister meines Daseins bin, daß meine Familie und die Gemeinschaft das Talent haben, all das zu produzieren, was ich von der Wiege bis zum Grabe brauche.
Ich erinnere mich an einen Novembertag in meiner Jugend. Kalt, grau und die ersten Schneewolken am Horizont. Mühsam zogen unsere Kühe die letzte Fuhre von “Kukuruz-Stenken” in die Scheune. Sehr bald darauf fielen die ersten Schneeflocken. Als ich den Riegel des Scheunentores schloß, hatte ich das Gefühl, daß der Kreis des Jahres sich allmählich schließt und in diesem Kreis schien die Ganzheit unseres Daseins zu liegen. Sehr selten seither hatte ich das Gefühl solcher Ganzheit.
Ganz herzlich, Ihre Annemarie Sahloul”
(Burgenländische Gemeinschaft 11/12 1996. Nr.344)